Die Rede kann auf YouTube als Video aus dem Livestream angeschaut werden (ab 1h 13min).
Sehr geehrter Herr Präsident Hofmann,
Liebe Kommiliton*innen,
Liebe Universitätsfamilie,
der heutige Vormittag steht unter dem Motto „Vielfalt leben – Heimat schaffen“. Woran denken Sie, wenn Sie an Heimat denken? Für mich ist Heimat zweierlei: Gefühle und Orte.
Das Gefühl unter Menschen zu sein, welche ich kenne und liebe. Egal ob mit meiner Familie beim Sonntagsspaziergang oder mit meinen Freund*innen draußen beim Grillen. Das Gefühl, durch den Stadtpark zu gehen, den ich schon in so vielen Farben und Jahreszeiten erlebt habe. Das Gefühl von Geborgenheit. Und die Orte / Momente, die mich begleitet und geprägt haben. Der Weg durch diese eine bestimmte Grünanlage, den ich täglich in die Schule gegangen bin. Das Feuerwehrhaus, in welchem ich in meiner Jugendfeuerwehr so viel Zeit verbracht habe. Die Donaubrücken in Budapest, über die ich immer zu meiner Oma gefahren bin. Oder das Wohnzimmer, in dem ich mit meiner Familie um den Kamin gesessen bin.
Diese ganzen Erinnerungen, die diese Gefühle und Orte verknüpfen: das ist Heimat für mich.
Aber inzwischen ist auch die TUM Teil meiner Heimat geworden: die StudiTUM-Häuser, in denen ich aufgeregt vor den Prüfungen lerne; der Innenhof draußen vor der Tür, wo ich mit Kommiliton*innen nach bestandenen Klausuren feiere; das Büro der Studentischen Vertretung, wo ich mit engagierten Studierenden, die heute zu Freund*innen geworden sind, Ideen für die Verbesserung des Studiums an der TUM sammle oder eben dieser Audimax, in dem ich schon unzähligen spannenden und manchmal auch herausfordernden Vorlesungen gelauscht habe.
Ich bin dankbar, hier an der TUM – aber auch hier in München – eine Heimat gefunden zu haben.
Doch um hier an der TUM eine geistige Heimat zu finden, müssen Studierende erst in München ein Zuhause finden. Und das gestaltet sich leider nicht einfach. Deutschlandweit sind fast die Hälfte aller Studierenden, die auf einen Wohnheimplatz hoffen, auf der Warteliste des Studentenwerk München zu finden: 15.000 Studierende warten in unserer Stadt auf ein kleines Stückchen Heimat. Eine WG ist für viele keine Alternative mehr. Mit durchschnittlich 644€ im Monat für ein WG-Zimmer hält München einen traurigen Rekord in puncto studentischen Wohnens. Mit dem Bafög Höchstsatz von knapp über 800€ - den aber auch immer weniger Studierende (nur noch um die 12%) bekommen – bleiben 150€ übrig für Essen, ÖPNV, Bücher, Unimaterial und Freizeit. Man muss keine höhere Mathematik studiert haben, um zu sehen, dass das vorne und hinten nicht reicht – ja nicht mal reichen kann, aber eigentlich sollte. Dass laut neusten Daten des Statistischen Bundesamtes fast 40% der Studierenden armutsgefährdet sind, ist nur eine beschämende Konsequenz dieser prekären Ausgangssituation. Bildung sollte niemals ein Privileg der finanziell Starken sein.
Dass München beim Thema Wohnen kein einfaches Pflaster ist, dürfte uns allen bekannt sein. Aber als ich bei der Vorbereitung auf diese Rede nach den konkreten Zahlen recherchiert habe, heben mich diese fassungslos gemacht und erschüttert. Wie wollen wir die besten Köpfe und Talente zu uns holen und ihnen eine geistige Heimat bieten, wenn wir es nicht mal schaffen, ihnen ein bezahlbares und lebenswertes Stückchen Heimat hier in München zu offerieren?
Die hoffnungslosen Gesichter von Studierenden, die verzweifelt im Büro der Studentischen Vertretung vorbeikommen und nach einem Dach überm Kopf fragen, tauchen immer wieder in meinen Gedanken auf. Wissen Sie, wie schwierig es ist, ihnen vermitteln zu müssen, dass wir leider auch nicht mehr machen können als Augen und Ohren offen zu halten? Wissen Sie, wie schwer es ist diese Menschen wegzuschicken, ohne wirklich weiterhelfen zu können? Mit dem Hintergedanken, dass sie eventuell in wenigen Tagen oder Wochen kein Dach mehr über dem Kopf haben und damit auch ihr Studium in München wieder beenden müssen.
Und dabei geht es im Bereich „Studentisches Wohnen“ auch etwas vorwärts: erfreulicherweise ist der Freistaat Bayern mit 70 Millionen Euro für die Renovierung der leerstehenden Wohnheime in der Studentenstadt eingesprungen – Vielen Dank für Ihren Einsatz hierfür, Herr Blume! 1000 Wohnheimplätze werden dadurch wieder bewohnbar. Damit erreichen wir – wenn wir optimistisch sind – in 5 Jahren, leider nur den Status Quo des Jahres 2020. Angesichts der schlechten Ausgangssituation und weiterhin steigender Studierendenzahlen ist das zu wenig. Wir brauchen mehr studentischen Wohnraum, und das nicht morgen, sondern eigentlich hätten wir ihn schon gestern gebraucht.
Aber es ist trotzdem nie zu spät anzufangen und durchzustarten. Ende der 1950er Jahre haben sich Rektor*innen und Professor*innen mit der damaligen Geschäftsführung des Studentenwerks zusammengeschlossen und mit der Unterstützung des Freistaates die heutige Studentenstadt entwickelt und gebaut. Es ist an der Zeit, uns heute – fast 70 Jahr später – dringend wieder zusammenzusetzen. Wir brauchen eine starke neue Koalition aus Hochschulen und Universitäten mit all ihren Statusgruppen, dem Studentenwerk, den Städten München und Garching und dem Freistaat Bayern. In dieser Konstellation können wir vieles erreichen. Und sehr geehrter Herr Minister Blume, würden Sie nicht gerne auch mit einem Markus-Blume-Haus in einer Studentenstadt 2.0 verewigt werden?
Wenn wir zusammen an einem Strang ziehen, können wir tausenden weiteren Studierenden und Nachwuchswissenschaftler*innen eine Heimat bieten: eine Heimat, in der sie sich geistig zuhause fühlen können – aber auch eine Heimat, in der sie hoffnungsvoll und ohne Sorgen ein Bett zum Schlafen und eine Wohnung zum Leben haben:
Eine lebenswerte Heimat.
In Wohnheimen kam schon immer eine bunte Vielfalt zusammen: eine Vielfalt an Sprachen und Kulturen (von München über Krakau nach Neu-Delhi), eine Vielfalt an unterschiedlichen Familienhintergründen, eine Vielfalt von Talenten, Interessen und Begabungen. Und diese Vielfalt soll und wird in unsere Universitätsfamilie getragen. Das erst ermöglicht einen so fruchtbaren und bunten wissenschaftlichen Diskurs und Meinungsaustausch und schafft Platz und Möglichkeiten für zukunftsweisende Ergebnisse. Aus meinem Studium der Politikwissenschaften weiß ich erst recht, wie interessant und spannend (manchmal auch herausfordernd) es ist, auf andere Weltanschauungen oder Lebensrealitäten zu treffen – und diese dann auf Augenhöhe auszudiskutieren.
Deshalb ist es aber auch so wichtig diese Vielfalt zu leben, zu bewahren und zu schützen. Wir müssen sicherstellen, dass Studierende aus den unterschiedlichsten Ecken dieser Welt die Möglichkeit haben sollten, eine Heimat bei uns zu finden – und das unabhängig von der finanziellen Situation der Familien. Die Studiengebühren für Ausländer*innen außerhalb der EU - die mit dem neuen bayerischen Hochschulinnovationsgesetz möglich werden - können für viele hervorragende Talente zu einer Hürde werden. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass solche Hürden ihnen in den Weg gelegt werden. Sollte die TUM Studiengebühren einführen wollen, müssen wir garantieren, dass eine wirkliche Vielfalt an Studierenden erhalten bleibt. Es muss eigene Stipendien geben, damit alle, die mit ihren Talenten und Fähigkeiten überzeugen, aber sich keine Studiengebühren leisten können, auch hier bei uns die Möglichkeit bekommen zu unserer vielfältigen TUM-Familie beizutragen.
Vielfalt kann nicht nur auf der Skala national bis international geschaffen und gelebt werden. Vielfalt – oder neudeutsch Diversity – bedeutet so viel mehr. Wenn wir uns z.B. den Frauenanteil an der TUM anschauen, ist da noch Luft nach oben: unter den Studierenden sind 36,4% weiblich, und der Frauenanteil unter den Professor*innen beträgt lediglich 20,9%. Da ist selbst im Kaskadenmodell, welches das neue BayHIG vorsieht, Potential vorhanden. Wir müssen weiterhin daran arbeiten, strukturelle und prozedurale Hürden abzubauen. Aber auch jede und jeder von uns persönlich kann dazu beitragen, dass mit Klischees und Vorurteilen endlich aufgeräumt wird. Wenn wir anfangen im Alltag allen Geschlechtern und allen Nationalitäten, anderen Denkweisen und anderen Ideen gegenüber aufgeschlossen und offen aufzutreten, tragen wir erheblich zu einer bunten und diversen Universität und letztendlich Gesellschaft bei. Damit wir allen eine Heimat anbieten können:
Eine vielfältige Heimat.
Aber Heimat muss nicht nur geschaffen werden und Vielfalt muss nicht nur gelebt werden, nein: Heimat und Vielfalt müssen auch bewahrt werden. Die Klimakrise ist längst nicht mehr nur eine abstrakte Bedrohung in anderen Ländern, er ist auch hier bei uns mit aller Wucht angekommen. Viele aus meiner Generation fühlen sich machtlos vor diese Herausforderung gestellt, allein gelassen von Politik und Gesellschaft und vor allem nicht ernst genommen in ihren Zukunftssorgen und -ängsten. Einige von ihnen spielen auch regelmäßig mit den Gedanken: „Warum überhaupt noch lernen oder studieren, wenn wir in wenigen Jahrzenten sowieso keine lebenswerte oder überhaupt eine Existenzgrundlage mehr haben werden?“
Für mich ist klar: jede und jeder einzelne von uns muss Verantwortung übernehmen und das eigene Handeln, die eigenen Gewohnheiten hinterfragen. Egal ob Einzelpersonen, Firmen, Kommunen oder gesellschaftliche Akteure.
Umso stolzer macht es mich, dass die TUM sich dieser Verantwortung stellt und mit der „TUM Sustainable Futures Strategy 2030“ voranprescht, um alsbald die Transformation zu einer klimaneutralen Universität zu vollbringen. Vor ca. einem Monat wurde exakt auf dieser Bühne diese Strategie vorgestellt. Ich muss sagen, ich finde die Strategie ambitioniert. Ambitioniert und durchaus realisierbar. Aber auch dringend notwendig, dass sie wie geplant umgesetzt wird. Die TUM hat unter den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen 4 Grundprinzipien und sechs Schwerpunkte identifiziert, für die wir als Universität besonders viel beitragen können. Und gemeinsam können wir diese gesteckten Ziele wirklich erreichen.
Ich möchte Sie alle hier ermutigen, diesen Weg voller Tatendrang und Elan weiterzugehen. Der Einsatz von allen von uns zählt: Auch nach der „Energiekrise“ kann man das Licht ausschalten, wenn man das Büro verlässt. Und auch in den nächsten Wintern kann man sich überlegen, ob es wirklich kuschelige 23° sein müssen, oder ob nicht auch 20-21° locker ausreichen, ohne frieren zu müssen. Denn wir sind zwar gerade hochmotiviert in den ersten Kilometer von einem Marathon-Lauf gestartet, aber wir haben noch 41 weitere Kilometer vor uns. Wir müssen diese Motivation nutzen und die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie jetzt anfangen umzusetzen. Und warum das Ganze? Ganz einfach: für eine lebenswerte Zukunft:
Eine nachhaltige Heimat.
Auch wenn wir aktuell in herausfordernden und stürmischen Zeiten leben, können wir alle durch unseren Einsatz, unsere Besonnenheit und unser Verhalten dazu beitragen, Vielfalt an unserer Uni zu leben und Heimat zu schaffen, sei es durch unser persönliches Engagement oder unseren politischen und hochschulpolitischen Einsatz. Wenn wir gemeinsam zusammenarbeiten, können wir einen Ort schaffen, an dem alle zuhause sind und der für alle eine Heimat bietet. Nur gemeinsam können wir die Herausforderungen und Chancen, die sich uns stellen, in Angriff nehmen und für alle Mitglieder unserer Hochschulfamilie eine Heimat schaffen.
Lassen Sie mich meine Gedanken mit einem Zitat vom deutsch-ungarischen Pianisten Franz Liszt abrunden: „Ohne Fantasie gibt es keine Kunst, keine Wissenschaft und auch keine Kritik.“ Ich wünsche uns allen hier genügend Fantasie, damit wir mit Kunst, mit Wissenschaft und mit konstruktiver und aufbauender Kritik eine lebenswerte, vielfältige und nachhaltige Universität schaffen können:
Eine geistige Heimat